Karma, mein Freund und Helfer

am 5.416 Meter hohen Thorong La-Passam 5.416 Meter hohen Thorong La-Pass

Im März 2023 war es endlich so weit. Ich erfüllte mir den lang gehegten Traum, im Himalaya meine Spuren zu hinterlassen. Allerdings nicht mit dem Mountainbike von Lhasa nach Kathmandu, sondern zu Fuß auf den Spuren des Annapurna-Circuit-Trek zwischen Kathmandu und Pokhara. Die Frage „Was soll dort schon schiefgehen?“ stellte ich mir im Vorfeld erst gar nicht, schließlich trat ich die Reise zum Dach der Welt gut vorbereitet an. Pustekuchen …

Aus rein sportlicher Sicht empfinde ich die vierzehn Tagestouren zwischen sechs und 20 Kilometern inklusive der bis zu 1.200 zu überwindenden Höhenmeter als ziemlich easy. Lediglich das Wandern in Höhenlagen jenseits der 3.000 Metergrenze stellt für mich das große Unbekannte dar, denn ich sammelte in der Vergangenheit in Alpen und Anden lediglich Erfahrungen in tieferen Regionen. Glücklicherweise sind die vom Reiseveranstalter ausgearbeiteten Etappen von den Distanzen, den Auf- und Abstiegen, der Gehzeit und den Pausen her so geplant, dass die Akklimatisierung an die zunehmende Höhe mit jedem Kilometer mir mehr als leicht fiel.

ENTSCHLEUNIGUNG

Während Ausdauersportler durch das Training im niedrigen Intensitätsbereich bekanntlich schneller werden, regt die Langsamkeit beim Trekking meine Gedankenwelt an. Ohne Termindruck oder andauernd auf die Uhr schauen zu müssen beziehungsweise meine E-Mails abzurufen, finde ich inmitten der beeindruckenden Bergwelt der Sieben- und Achttausender endlich die Muße, Abstand vom Alltag in Beruf und Privatleben zu gewinnen und runterzukommen. Reisterrassen, Apfelplantagen, Rhododendren- und Fichtenwälder wechseln sich ab, ehe es in den Hochebenen immer karger wird. Tempel und Klöster sowie zahlreiche Gebetsmühlen und unendlich viele Gebetsfähnchen am Wegesrand weisen auf die Bedeutung des Buddhismus im Alltag hin. Freundliche Bewohner gehen – ganz ohne Hektik – ihren Alltagsbeschäftigungen nach, in der Landwirtschaft meist mit einfachsten Hilfsmitteln. Die Dorf- und Landbevölkerung wirkt glücklich und zufrieden, auch ganz ohne Luxus, abgesehen von den allgegenwärtigen Smartphones und dem achtlos in der Natur entsorgten Plastikabfall. Ich fühle mich wie in eine andere Zeit versetzt und werde zunehmend entspannter.

Upper Pisang: auf dem Annapurna Circuit Trek
Upper Pisang: auf dem Annapurna Circuit Trek

Die Ausblicke auf Manaslu, Gangapurna, Dhaulagiri und das Annapurna-Massiv sind omnipräsent und verleiten mich dazu, mit weit aufgerissenem Mund die Landschaft in vollen Zügen zu genießen. Die Wanderwege sind sehr gut ausgebaut und auch für Flachlandtiroler wie mich absolut gefahrlos. Stellen bei uns Hängeseilbrücken überlaufene Touristenattraktionen dar, gehören jene im Himalaya zum Alltag. Ohne sie wären etliche Häuser und Ortschaften quasi von der Außenwelt abgeschnitten, und auch der Annapurna-Circuit-Trek wäre ohne diese „Abkürzungen“ um etliche Kilometer länger. Glücklicherweise bin ich schwindel- und schaukelfrei, sodass ich mich jedes Mal auf die nächste Brücke freue, schließlich bieten sie – meist geschmückt mit bunten Gebetsfähnchen – den perfekten Rahmen für weitere schöne Landschaftsaufnahmen.

ZWECKMÄSSIG

Die unbeheizten Zimmer in den Unterkünften sind spartanisch einfach und zweckmäßig eingerichtet: zwei Betten, kleine Nachttischchen und Kleiderhaken auf dem Zimmer, mit viel Glück ein separates Bad mit europäischer Toilette, meist jedoch in Verbindung mit der Dusche auf dem Flur. „Hochgebirgstrekker“, was willst Du mehr? All das vermittelt das Gefühl, Teil einer Expedition in eine andere Welt zu sein. Herrlich. Jenes stellt sich immer dann bei mir ein, wenn ich am Ende eines langen Tages im mit Holz oder Yakdung gewärmten Gemeinschafts- und Gastraum auf Reisende aus aller Herren Länder treffe. Bei heißem Tee handeln die Geschichten von Abenteuern und Begegnungen mit Menschen und Tieren, nicht von Wertgegenständen, Labels und Reichtümern.

ES WAR A….KALT

Apropos Heizung. Im Vorfeld der Reise deckte ich mich zwar mit passendem Equipment für alle Wetterkapriolen ein, dass es mit Einbruch der Dunkelheit nachts aber so kalt wird, überrascht mich jeden Abend aufs Neue. Im Gegensatz zu den für meine Verhältnisse ab und an sehr gewöhnungsbedürftigen sanitären Anlagen zieht mir trotz passender Kleidung und eines bis –20 Grad Celsius tauglichen Schlafsacks die abendliche Kälte im wahrsten Sinne des Wortes die Schuhe aus. Darüber hinaus leide ich mit zunehmender Höhe unter Appetitlosigkeit. Nicht nur verzichte ich abends und morgens darauf, die leeren Speicher wieder komplett aufzufüllen, mir entzieht die Kälte über Nacht weitere Energie. Erschwerend hinzu kommt, dass bereits zu Beginn der Königsetappe über den 5.416 Meter hohen Thorong-La-Pass mein kompletter Tagesvorrat an Energieriegeln fast aufgebraucht ist. Dass ich mir in den beiden Unterkünften zuvor auf 4.018 und 4.450 Meter Höhe das Frühstück und Abendessen regelrecht reinzwängen muss, tut sein Übriges.

EIN MULI KOMMT SELTEN ALLEIN

Die Königsetappe verläuft – verbunden mit einem wirklich atemberaubenden Sonnenaufgang in schneebedeckter Umgebung – ziemlich reibungslos. Ich genieße die klare Luft, gehe mein eigenes Tempo, höre auf meinen Körper und verpflege mich regelmäßig mit Riegeln und warmem Tee. Kurz nachdem ich nichts mehr zu essen habe und nur noch geschätzte 100 Höhenmeter und einen Kilometer von der Passhöhe und dem „rettenden“ Kiosk entfernt bin, holt mich das Schreckgespenst eines jeden Triathleten mit seiner ganzen Wucht ein: Leistungsabfall. Ich versuche es noch ein paar gefühlte Meter, aber da geht nichts mehr, überhaupt nichts. Die „berühmte Flasche“ ist leer. Als ich mich bereits auf ein mühsames „step by step“ einstelle, kommt mir ein Sherpa mit einem Maulesel entgegen. Während des Aufstiegs hatten mich bereits mehrere „Wanderer“ auf diesem Wege überholt. Kurzentschlossen spreche ich ihn an, und wir kommen ins Geschäft.

Karma, mein Freund und Helfer
Karma, mein Freund und Helfer

Wenige Minuten später bin ich am Ziel, zwar nicht auf meinen eigenen Füßen, dafür mit Unterstützung von Karma, so heißt mein neuer vierbeiniger Freund. Auf das obligatorische Selfie an der Passhöhe verzichte ich, schließlich war ich ja, wenn auch nur für wenige Meter, auf fremde Hilfe angewiesen. Nachdem ich gefühlt den halben Kiosk um seinen Limonaden- und Schokoriegelvorrat erleichtert hatte, nehme ich eine Viertelstunde später – gut gestärkt und mit genügend Proviant im Rucksack – die „Verfolgung“ meiner Mitwanderer hinab nach Muktinath auf.

LESSONS LEARNED

Auch wenn ich mich im ersten Moment ziemlich unwohl dabei fühlte, Karmas Dienste in Anspruch zu nehmen, war es die richtige Entscheidung. Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits nicht nur meine körperlichen Grenzen überschritten, ich hatte schließlich auch noch den mehrstündigen Abstieg in den Pilgerort vor der Brust. Heute bin ich stolz auf meine Entscheidung, denn sie zeigte mir deutlich auf, dass es mir nicht wert ist, bei der Ausübung des Hobbys meine Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Die Momente, Erlebnisse und Begegnungen dieser außergewöhnlichen Trekking-Reise sind dadurch in keiner Weise beeinträchtigt. Im Gegenteil, sie macht mich stärker, in herausfordernden Situationen einen klaren Kopf zu behalten, um wichtige Entscheidungen zu treffen.

Ich hatte die richtige Ernährung in den extremen Höhenlagen jenseits der vier- und fünftausend Meter völlig unterschätzt, insbesondere in Kombination mit den kurzen Regenerationszeiten und der Kälte. Kein Wunder, dass ich in den zwei Wochen rund sechs Kilogramm an Körpergewicht verloren habe. Beim nächsten Mal bin ich auf diese Randerscheinungen definitiv besser vorbereitet. Und da ich besonders im unteren Rückenbereich sehr kälteempfindlich bin, packe ich mir einen wärmenden Nierengurt ein. Himalaya ich komme wieder, versprochen!