Pünktlichkeit ist eine Zier …

Keine Chance für VordränglerKeine Chance für Vordrängler

Habt Ihr auch schon mal eine private oder geschäftliche Verabredung verbaselt? Oder seid einfach viel zu spät aufgelaufen? Pünktlichkeit ist ein sehr dehnbarer Begriff …

… nicht nur bei Menschen, sondern auch in den unterschiedlichsten Kulturen.

Ich persönlich mag es einfach nicht, dass andere auf mich warten müssen. Lieber fahre ich viel zu früh los und stehe mir die Beine in den Bauch als umgekehrt. Passiert dann doch das Unvermeidliche, rufe ich wegen ein paar Minuten meist sogar an oder schreibe eine WhatsApp. Das liegt in meiner DNA, das bin ich und ist mir von meinen Eltern von klein an so beigebracht worden. „Pünktlichkeit ist eine Zier“, bei jeder Verabredung höre ich die Stimme meiner Mama. Ich sehe dabei sogar ihr Gesicht mit diesem unverwechselbaren freundlichen, ja beinahe eindringlichen „das-tut-man-aber-nicht-Blick“.

Verspäte ich mich dann doch einmal, sitze ich meinem Gegenüber in den ersten Minuten zwar nicht wie auf der Anklagebank gegenüber, fühle mich jedoch irgendwie schlecht. Interessanterweise gibt es aber auch viel zu viele Personen, denen all dies etliche Kilometer am Allerwertesten vorbeigeht. Im Business gibt es doch auch fixe Termine, zu denen Projekte abgeschlossen sein MÜSSEN, ich denke da nur an den Jahrtausendwechsel, die Euro-Umstellung oder die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben zu einem bestimmten Datum. Was im Büro klappen kann, sollte im privaten Umfeld doch erst recht zum guten Ton gehören. In Zeiten von Siri, WhatsApp und Freisprechanlagen sollte ein kurzer Hinweis auf eine Verspätung eigentlich doch möglich sein, oder etwa nicht? Hat das im übertragenen Sinne nicht auch etwas mit Achtung und Respekt seines Gegenübers zu tun?

In Japan zählt jede Minute …

In Japan beispielsweise nehmen es die Lokführer des berühmten Shinkansen mit der Pünktlichkeit so genau, dass sie sich persönlich in die Verantwortung ziehen, sollte ihr Zug einmal eine Verspätung haben. Selbst eine klitzekleine Minute führt dazu – sofern ich richtig recherchiert habe –, dass der Lokführer einen Bericht verfasst. Nicht umsonst spricht man im Bahnwesen von der japanischen Pünktlichkeit. Bei meinem letzten Aufenthalt in Tokyo wurde dieser Eindruck jedoch noch getoppt. Allerdings nicht bei der Bahn, sondern bei der Abfahrt des Shuttle-Busses zum Flughafen Narita.

Japan, Tokyo Station, Busbahnhof

Dass die Fahrgäste bis zum Besteigen nicht in einer großen Menschentraube auf dem Gehsteig warten, um beim Öffnen der Türen unkontrolliert nach vorne drängeln, sondern geordnet hintereinanderstehen, habe ich bei meinen bisherigen Japan-Besuchen bereits erleben dürfen. Die Situation bei „meinem Shuttle“ ist jedoch anders, geradezu surreal, denn es ist mitten in der Nacht um 1:00 Uhr. Als ich mit meinem Neffen nach einem achtstündigen Sightseeing am Busbahnhof der nahezu menschenleeren Tokyo Station ankomme, gibt es dort zwei Wartebereiche. Gerade einmal zehn Fahrgäste verirren sich an dem Ort Tokyos, der tagsüber mehrere Millionen Pendler ausspuckt. Zu unserer Verwunderung stellen wir dabei fest, dass nicht nur ein Bus zum etwas über 60 Kilometer entfernten Flughafen fährt, sondern gleich zwei, und zwar im Abstand von zehn Minuten. Bus Nummer 1 ist nur für Frauen, ein Service zum Schutz des weiblichen Geschlechts vor möglichen Übergriffen, den ich so noch nicht gesehen hatte. Alle anderen Fahrgäste dürfen dann zehn Minuten später mit Bus Nummer 2 fahren, in dem aber auch Frauen willkommen sind.

… nein, jede Sekunde!

Zehn Minuten vor Abfahrt des ersten Busses erscheinen zwei Angestellte der Busgesellschaft, die darauf achten, dass die Fahrgäste nicht nur richtig eingeordnet dastehen, sie laufen auch immer wieder auf den Vorplatz, um nach dem Bus Ausschau zu halten. Nachdem dieser überpünktlich vorfährt, wird sofort das Gepäck der drei Frauen verstaut. Überall in der Welt wäre der Bus in genau diesem Moment losgefahren, nicht in Japan. Schließlich ist es ja noch nicht 1:10 Uhr. Bis zur geplanten Abfahrt des Busses schauen die beiden Busangestellten immer wieder auf ihre Armbanduhren, die letzte halbe Minute sogar im Sekundentakt. Mit einer vielsagenden Mimik halten sie steten Blickkontakt, auch mit dem Busfahrer. Letzterer schießt dabei – und das soll nicht böse gemeint sein oder ins Lächerliche gezogen werden – j den Vogel ab. Ohne den Blick von seiner Uhr zu nehmen, legt er wenige Sekunden vor der planmäßigen Abfahrt den linken Zeigefinger auf den Bedienknopf zum Schließen der Bustür, um diesen in abgenickter Zustimmung seiner beiden Kollegen pünktlich um 1:10:00 Uhr zu betätigen und loszufahren. Dass der Motor um 1:09 Uhr angelassen wurde, erwähne ich an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber.

Vor dem Hintergrund der bereits beschriebenen Pünktlichkeit beim Shinkansen sicherlich nachvollziehbar, für die mir bis dato bekannten Verhältnisse im Busverkehr jedoch undenkbar. Abgesehen davon hätten die meisten Busgesellschaften die Arbeitsstellen der beiden Bediensteten, die den Gästen behilflich waren, sicherlich schon vor Jahren zum Wohle des Shareholder Value und zu Lasten der Kundennähe wegrationalisiert.

Und die persönliche Moral von der Geschichte? Den eindringlichen Blick meiner Mutter sollte ich in Zukunft auch auf das zeitnahe Bearbeiten meiner E-Mails und Geschäftsbriefe beziehen. Da sehe ich definitiv Optimierungspotential.