Wo kommße!  Und wo fährße?

in Faulebutterin Faulebutter

„Sauerland, mein Herz schlägt für das Sauerland, begrabt mich mal am Lennestrand, wo die Misthaufen qualmen, da gibt’s keine Palmen. Sauerland, mein Herz schlägt für das Sauerland, vergrabt mein Herz im Lennesand, wo die Mädchen noch wilder als die Kühe sind!“ Der Refrain des 1983 veröffentlichten Kulthits der Iserlohner Rockgruppe Zoff ist eine Hommage an das Land der tausend Berge im Süden Westfalens. Sind Winterberg und Willingen über die Landesgrenzen hinaus ein Begriff, werden in dem Songtext auch Stachelau, Kalberschnacke, Züschen und Küntrop thematisiert. Sicherlich alles ehrenwerte Ortschaften, aber kennt jemand die Ansiedlung Glinge oder den Weiler Faulebutter?

Vor gut und gerne 40 Jahren verlasse ich meine Heimatstadt Arnsberg, um in der großen weiten Welt meiner Berufung nachzugehen, meine Ziele zu verfolgen. Keine einzige Sekunde verschwende ich auch nur einen Gedanken daran, jemals im Sauerland wieder sesshaft zu werden. No way! Im Gegenteil: Zu klein, zu spießig, zu ländlich, nix los, nicht weltoffen, ab vom Schuss …

Und jetzt?

„Ich bin wieder hier
In meinem Revier
War nie wirklich weg
Hab' mich nur versteckt
Ich rieche den Dreck
Ich atme tief ein
Und dann bin ich mir sicher
Wieder zu Hause zu sein.“

"Wieder hier" von Marius Müller-Westernhagen

Streifzüge durch altbekannte Gassen und Ortsteile bestimmen plötzlich meinen Tagesablauf. Vieles sieht völlig anders aus, erkenne jedoch Altbekanntes. Trotz veränderter Straßenführungen, Umgehungsstraßen, Kreisverkehre und Unterführungen, Gewerbeansiedlungen und Wohngebäuden finde ich mich schnell zurecht. Herausfordernder ist da schon mein Kinderspielplatz, die umliegenden Wälder zwischen Möhne- und Sorpesee. Der Orkan Kyrill und die Borkenkäfer haben ihre Spuren hinterlassen und erschweren die Orientierung an die in meinen Erinnerungen existenten Weggabelungen und markanten Höhenzüge. Mit jedem Spaziergang wird es zunehmend vertrauter. Vergangenheit und Gegenwart, so lange her und doch ganz nah.

Auf dem Rennrad wird mein Entdeckungsradius zunehmend größer, aber auch sportlicher. Ich bin kein Freund von Touren, die ich mir auf meinen smarten Tacho downloade und nachfahre. Stattdessen suche ich mir ein Ziel aus und lasse mich – möglichst abseits der ausgefahrenen Spurrillen – treiben. Die 50-Prozent-Wahrscheinlichkeit, dass der herrlich asphaltierte Wirtschaftsweg irgendwo im Nirgendwo unerwartet im Nichts endet oder ein grobschottiger Weg das Weiterfahren verhindert, nehme ich gerne in Kauf. Und dann gibt es noch Geheimtipps, die mir ab und an zugeraunt werden.

Beispiel gefällig?

Meine Hausrunde von Sundern nach Wildewiese führt entlang des Sorpesees, dessen idyllisch gelegene Buchten im Sommer zum Verweilen und einem Sprung ins türkisblaue Wasser einladen. In Amecke fahre ich auf dem Radweg mitten durch den in einer leichten Senke gelegenen Golfplatz weiter über Allendorf nach Hagen, genauer gesagt Kuhschisshagen. Auch wenn man in dem 1.000-Seelen-Dorf – fast alle Häuser befinden sich an der schnurgeraden Hauptstraße – nicht mehr Gefahr laufen muss, in selbigen reinzutreten, setzt sich der Zusatz Kuhschiss über Generation hinweg in den Sauerländer Köpfen fest. Ob dies der Grund ist, warum das Ortsschild bei Sammlern so beliebt ist und für eine Übergangszeit regelmäßig eine Ersatz-Ortstafel herhalten muss, entzieht sich meiner Kenntnis.

Am Dorfende führt ein sanft ansteigender Wirtschaftsweg über knapp 200 Höhenmeter in Richtung Wildewiese. Ich lasse es gemütlich angehen, genieße die klare Luft und den angenehm warmen Wind auf meiner Haut. Kurz vor dem Abzweig zur Sorpequelle überholt mich eine Dame in den Sechzigern, locker flockig und freundlich grüßend auf ihrem E-Bike, gefolgt von ihrem etwas aus der Puste gekommenen Ehemann, ohne E.

„Wo kommße!“ „Sorpesee!“ „Und wo fährße?“ „Über Saal und Kuhschisshagen zurück!“ Daraufhin begutachtet er zunächst mein Rennrad … und mich. „Nix da!“ „Hä?“ „Das sind doch keine 40 Kilometer. Für Dein Outfit viel zu wenig. Also, anne Kreuzung links den Lenscheid runter, in Rönkhausen links hoch zur Glinge und nach Faulebutter halblinks runter bis Sundern. Hau rein!“ Und weg war er, seiner Frau hinterherhechelnd. Unwillkürlich lache ich lauthals los. So sind sie, die Sauerländer: kurz ab, auf den ersten Blick etwas stoffelig und zurückhaltend, gleichzeitig neugierig und direkt, jedoch alles in einer herzlichen Schale!

Im dunkelsten Funkloch?

Panoramablick im Sauerland

Tatsächlich befolge ich seine Anweisung. Und was soll ich sagen? Es hat sich wirklich gelohnt. Jetzt weiß ich auch, dass im Sauerland – keine 40 Kilometer von meinem Geburtsort entfernt – ein Pumpspeicherwerk existiert, und das seit 55 Jahren. Fasziniert fahre ich entlang der Glingebachtalsperre hoch zum Oberbecken auf dem Dahlberg. Einmal angekommen, bietet der asphaltierte Rundweg ein tolles 360 Grad Panorama über die Höhen des Sauerlands.

Noch etwas geflasht erreiche ich wenige Minuten später Faulebutter. Kaum im Ort, bin ich auch schon wieder raus. Mein Eindruck? Die Ansiedlung besteht nur aus Bauernhöfen und Kneipen. Einsamer geht es kaum. Zum Glück verpasse ich nicht die Abfahrt nach Sundern, ansonsten hätte ich Steinsiepen, Kuckuck und Schliprüthen einen Kurzbesuch abstatten müssen. Und die sollen – wie ich später erfahre – sogar Faulebutter Konkurrenz machen.

Die Weiterfahrt entpuppt sich als herrlich bergab zu bretternde Kreisstraße, ohne auch nur einem Auto zu begegnen. Den kurzen Abstecher zum Kloster Brunnen aus den 18. Jahrhundert erspare ich mir. Zum einen genieße ich den Flow auf dem perfekten Asphalt, zum anderen befinde ich mich im vermeintlich dunkelstem Funkloch Deutschlands, in Brenschede. Ohne Radpanne – etwas Sorge hatte ich schon, dass es mir so ergeht wie einem Studenten, der hier tagelang einen Balken auf seinem Handy suchte – erreiche ich Endorf und kurz darauf meinen Ausgangspunkt.

Nach 80 Kilometern geht mein besonderer Dank an den unbekannten Sauerländer, der mir diese schöne Entdeckungsrunde durch meine neue alte Heimat erst ermöglichte. Apropos Glinge und Faulebutter: Beide Ortschaften gehören zur Stadt Finnentrop, und durch die fließt die Lenne, an dessen Strand das Herz des Zoff-Sängers im Sand vergraben werden soll.

im vermeintlich dunkelstem Funkloch Deutschlands