Welche Dimension ist das denn?

Symbolbild Friedhof (Foto: Klaus Arendt)Symbolbild Friedhof (Foto: Klaus Arendt)

Physiker und Mathematiker sind sich seit Albert Einstein darüber einig, dass neben den vom Menschen wahrnehmbaren räumlichen Dimensionen Länge, Breite und Höhe auch eine vierte Dimension existiert: die Zeit! Wissenschaftliche Forschungen zu abstrakten Räumen in beliebig vielen Dimensionen unter Berücksichtigung des Newtonschen Gravitationsgesetzes und der Stringtheorie übersteigen jedoch mein Verständnis von Physik, Mathematik und Astronomie. Mir fehlt einfach der Zugang zu dieser Thematik.

Anstatt mich nach meiner Schulzeit mit den „Untiefen“ der Physik und Astronomie im Detail auseinanderzusetzen, finde ich mehr Gefallen an den Auswirkungen des Raum-Zeit-Kontinuums der „Zurück in die Zukunft-Trilogie“, natürlich in Verbindung mit dem Fluxkompensator und der für Zeitreisen benötigten Leistung von 1,21 Gigawatt. Das änderte sich jedoch schlagartig.

17. Oktober 2009

Der 17. Oktober 2009 ist ein ganz normaler Samstag mit den üblichen Schlagzeilen über Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Kultur und Vermischtes. Hervorzuheben sei an dieser Stelle lediglich die Kabinettsitzung der Regierung der Malediven auf dem Meeresboden, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. Von jenem medienwirksamen Ereignis befinde ich mich zur gleichen Zeit rund 3.000 Kilometer entfernt, in Abu Dhabi. Dort fährt mein Kopf seit ein paar Stunden Achterbahn. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und sehe mich ununterbrochen auf einer 47-jährigen Zeitreise im wiederum 5.000 Kilometer entfernten Sauerland. Was ist passiert?

Übermächtiger innerer Drang

In der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober reißt mich um 3:50 Uhr ganz plötzlich etwas aus dem Schlaf. Weder ein dringendes Bedürfnis, noch laut feiernde Touristen oder ein realitätsnaher Alptraum lassen mich weiterschlafen. Augen zu und umdrehen ist nicht, ein innerer Drang, mein Smartphone aus dem Zimmersafe zu befreien, ist – warum auch immer – größer, geradezu angsteinflößend übermächtig. Ich beuge mich diesem nicht nachvollziehbaren Druck und stehe auf. Kaum halte ich das stummgeschaltete Telefon in meinen Händen, erhellt sich das Display, sehe den Namen meines Bruders und nehme den Anruf wortlos entgegen. Auch am anderen Ende der Leitung höre ich nicht viel. Mir ist sofort bewusst, dass mein schwer erkrankter Vater verstorben ist. Meine Frage „wann?“ beantwortet er mit einem knappen „vor wenigen Minuten“! Kurz darauf beenden wir das sehr wortkarge Gespräch. Einschlafen? Fehlanzeige! Die Erinnerungen an meinen Vater lassen eine Rückkehr zur nächtlichen Normalität nicht zu.

Im Zug des Lebens

Ein jeder von uns ist schon mal mit der Bahn gefahren. Man steigt wo auch immer ein und kommt – mit etwas … na ja … mit sehr viel Glück – pünktlich an der nächsten Haltestelle an. Wir werden begrüßt und umarmt, es wird erzählt, gelacht und die geschmiedeten Pläne umgesetzt, bis es an der Zeit ist, die Reise fortzusetzen. Geht es von Arnsberg nur bis Düsseldorf oder doch über Frankfurt nach München? Im Gegensatz zu den Bahnverbindungen zwischen zwei Orten, können wir uns die Endstation im Zug unseres Lebens nicht aussuchen! An wie vielen Stationen hält er an, um Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen sammeln zu können, bevor das Signal zur Weiterreise ertönt? Mit meinem Vater durfte ich an 47 Bahnhöfen aus- und auch wieder gemeinsam einsteigen. Am 17.10.2009 reise ich ohne ihn weiter, jedoch mit einem Koffer voller Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre, an Begebenheiten, Ratschläge und Situationen, die ich mit meinem Vater erleben durfte.

Welche Dimension ist das denn?

Aber das ist noch nicht alles! Die Endgültigkeit unserer Verabschiedung – eine Woche später auf dem Neheimer Waldfriedhof – hatte für mich noch eine Überraschung parat. In dem Moment, als Papas Urne zu seiner letzten Ruhestätte hinabgelassen wurde, öffnet sich die Wolkenschicht, vereinzelte Sonnenstrahlen durchdringen die vereinzelten Nebelschwaden und erhellen die umliegenden Gräber, Büsche und Bäume. Aufkommender Wind wirbelt trockenes Laub in die Luft und um die Ohren der Trauernden. Papas Wetter! Unmittelbar sehe ich seine strahlenden Augen, als würde er mich zu einem Spaziergang im Wald auffordern. Diese für mich surreale Wetterkonstellation werte ich als ein Zeichen meines Vaters, dass es ihm gut geht und ich ab jetzt ohne Sorgen um ihn die Weiterfahrt im Zug meines Lebens fortsetzen kann. Bei der „Umarmung“ zum Abschied überwältigt mich das Gefühl, dass er mir ganz leise ins Ohr flüstert: „Wir sehen uns wieder. Wann und wo auch immer. Da bin ich mir ziemlich sicher!“ Erst viel später wird mir bewusst, dass genau diese (gefühlten) Worte des Abschieds auch der Abschluss meiner vorangegangenen Trauerrede waren, die nur sehr stockend über meine Lippen kamen.

Seitdem bin ich mir sicher, dass irgendwo da draußen, über, unter, neben mir oder wo auch immer in welchen mir unbekannten Dimensionen, ein Etwas zu existieren scheint, das mich in den frühen Morgenstunden des 17.10.2009 in den Minuten des Todes meines Vaters hat unruhiger schlafen und wach werden lassen! Und diese Erkenntnis – gepaart mit seinem letzten „mach‘s gut“ auf dem Friedhof – lässt mich seitdem nicht mehr los.