EINMAL wie SUPERMAN

Jais Flight | Ras Al KhaimahJais Flight | Ras Al Khaimah

Bunjee-Jumping. Fallschirmspringen. Paragliding. Klettern. Einmal wie Superman? Wäre das etwas für Sie? Sind Sie ein Adrenalinjunkie? Brauchen Sie diesen besonderen Kick, um dem Alltag zu entfliehen, sich frei zu fühlen? Oder gefriert Ihr Blut bei dem Gedanken an so etwas bereits an dieser Stelle zu Eis?

Außergewöhnliche Abenteuer lösen bei mir seit jeher einen unheimlichen Reiz aus, sie ziehen mich definitiv an und ich schaue – wie ein kleines Kind mit ängstlich-leuchtenden Augen – den Wagemutigen zu. Die Vorstellung jedoch, dass die Länge des Gummiseils falsch berechnet wird, sich der Fallschirm nicht öffnet, eine Windböe die Abwärtsbewegung beschleunigt oder der Haken in der Steilwand marode ist, hält mich davon ab. Für kein Geld der Welt würde ich mich auf so eine Freizeitaktivität einlassen.

Zwar bin ich schwindelfrei, muss aber sicher gesichert sein und einen für mich „gefühlten Boden“ unter meinen Füßen spüren. Ich bin auch nicht ängstlich, gehe ich doch ab und an kalkulierte Risiken ein, wie beispielsweise in einem Leichtflugzeug oder Helikopter ohne Seitentür mitzufliegen, um bessere und vor allem spiegelfreie Fotos schießen zu können. Eine viel zu niedrige Absperrung an einem Abgrund oder Balkon hingegen, erzeugt bei mir jedoch ein derart mulmiges Gefühl, sodass ich um schlecht gesicherte Fels-, Balkon- oder Dachkanten einen weiten Bogen mache. Ich bewege mich also irgendwo dazwischen.

EINMAL wie SUPERMAN

Am Abend nach dem Las Vegas-Halbmarathon im November 2019 kann ich – auch dank der ausgelassenen Stimmung in unserer kleinen Läufergruppe zum Abschluss des Kurztripps in das Spielerparadies – der Versuchung nicht widerstehen, mich zwischen den Casinos der überdachten Freemont Street wie Superman zu fühlen.

Las Vegas | SlotZilla-Erlebnis Freemont Street

Die rund 400 Meter lange SlotZilla Zoomline ermöglicht mir in 30 Metern Höhe dieses einminütige kurzweilige Zipline-Flugerlebnis. Angst? Fehlanzeige! Ich habe nie das Gefühl, dass mir irgendetwas passieren konnte, dafür war das Tempo gefühlt viel zu langsam. Auch wenn ein Sturz aus 30 Metern Höhe mir nach zwei Sekunden Fallzeit definitiv das Genick gebrochen hätte, verliere ich daran keinen einzigen Gedanken. Sorge vor einem Versagen der verwendeten Technik? Nein, mein Vertrauen in Stahlseil, Rolle und Karabinerhaken ist weitaus größer als in die Sicherheitsstandards der eingangs beschriebenen Adrenalinkicks.

EINMAL ist KEINMAL

Im Frühjahr 2022 halte ich mich beruflich für ein paar Tage in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf, genauer gesagt in dem knapp 60 Minuten nördlich von Dubai gelegenen Ras Al Khaimah. An meinem freien Tag möchte ich die historische Siedlung von Al Jazirah Al Hamra besichtigen, doch meine um etliche Jahre jüngeren Kolleg*innen kommen beim gemeinsamen Frühstück auf die Idee, in den nahe gelegenen Bergen eine Anfang 2018 eröffnete Zipline auszuprobieren. Als ich das Wort Zipline höre, spitzen sich meine Ohren und ich erinnere mich an den Spaß in Las Vegas. Natürlich bin ich dabei, schließlich ist doch alles halb so schlimm. Nach der Online-Registrierung fahren wir kurze Zeit später mit dem Mietwagen in Richtung des Jebel Jais, dem mit 1.934 Metern höchsten Berg des Landes. Je näher wir uns dem Ziel nähern, umso lieber wäre ich durch diese zwar karge, aber abwechslungsreiche Berglandschaft mit Rennrad gefahren. 90 Kilometer und mehr als 1.600 Höhenmeter bis zum Jais Flight-Center hätten es in sich gehabt, allerdings wären sie nicht vergleichbar mit den bevorstehenden Abenteuern gewesen.

PHÄNOMEN der SCHRÄGE

Auf welch schmales Brett ich mich mit meiner schnellen Zusage „da bin ich dabei“ eingelassen habe, wird mir erst bewusst, als ich die beiden Stahlseile sehe, die seitlich über den nicht enden wollenden Canyon gespannt sind, und an denen sich zwei Punkte rasend schnell von oben nach unten bewegten. Unmittelbar denke ich an die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten, und daran, dass dort nicht alle lebend herauskamen. Und dann sehe ich das Schild: The World’s Longest Zipline!

Jais Flight | Ras Al Khaimah

Ich bekomme ganz leichte weiche Knie, denn der Jais Flight hat eine Länge von 2,83 Kilometer und erfreut sich über einen entsprechenden Eintrag im Guinness Buch der Rekorde. An die angekündigte Geschwindigkeit von 150 Kilometern pro Stunde möchte ich gar nicht denken … und an die Fallhöhe in das steinige Tal schon gar nicht. Unwillkürlich erinnere ich mich schmunzelnd an Ottos Phänomen der Schräge: Je schneller das zit, desto eher das bums! Auch wenn es noch ein Zurück gegeben hätte, so ist dies für mich dann doch keine Option. Schließlich wurde die nahezu brandneue Zipline von erfahrenen Ingenieuren konstruiert und 70.000 Menschen hatten den Flug bereits ohne Schaden zu nehmen überstanden. Was kann da also schon passieren?

3 – 2 – 1: HAVE A NICE FLIGHT

Nach einer Video-Einweisung in den bevorstehenden Flug wird mir ein Funktionsanzug mit allerlei Gurten und Karabinern angelegt, ein aerodynamischer Helm und eine Fliegerbrille der Marke „Puck, die Stubenfliege“ inklusive.

Jais Flight | Ras Al Khaimah
Safety First

Unmittelbar danach bringt uns der Shuttle zur Startplattform, genauer gesagt zur Abschussrampe. Dort angekommen, „genieße“ ich von dem seitlich befindlichen Wartebereich die freie Sicht auf die bevorstehenden knapp drei Flugkilometer. Keine zehn Minuten später werde ich in meinem anthrazitfarbenen Outfit kopfüber im Superman-Style liegend an zwei Rollen in die Seilkonstruktion eingehängt. Im Gegensatz zu Superman muss ich meine Arme seitlich nach hinten anlegen und eine Schlaufe im Gesäßbereich greifen. Dort hänge ich nun – im wahrsten Sinne des Wortes in den Seilen – und warte auf das Go der Talstation. Mich übermannt – ich kann es gar nicht so richtig beschreiben – ein aufregendes, wohliges und beklemmendes Gefühl zugleich, atme ruhig ein und aus, versuche mich zu entspannen. Wie sich später herausstellt, gelang mir das bis zum „3 – 2 – 1: Have a nice Flight“ auch ganz gut: Puls 100.

FREI wie ein VOGEL

Mit dem Moment, an dem mich die Schwerkraft beschleunigt, sind alle Urängste, sofern diese noch irgendwo tief in mir schlummerten, vertrieben. Ich genieße den Flug und die unter und vor mir dahinbrausende bizarre Landschaft in vollen Zügen und fühle mich frei, unendlich frei.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr

Mit einem Mal sind sämtliche beruflichen und privaten Herausforderungen und Sorgen ganz weit weg. Nicht vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn man wie ein Vogel durch die Lüfte schwebt. Das für mich viel zu schnelle Ende deutet sich durch einen spürbaren Geschwindigkeitsverlust auf den letzten dreihundert Metern an. Und wie schnell letztendlich dann doch drei Minuten umgehen, irre. Interessanterweise fühlte sich die von meiner Smartwatch ausgewiesene Höchstgeschwindigkeit von 148 km/h – verglichen mit einer Fahrt auf der Autobahn in einem Cabrio – gar nicht so schnell an. Mein Puls erhöhte sich in Relation zur Beschleunigung auf dem ersten Kilometer bis auf 131 Schläge pro Minute, danach schien sich mein Körper an die Situation gewöhnt zu haben und die Herzfrequenz pendelt sich bei etwas über 100 ein.

DEN HALS NICHT VOLL BEKOMMEN

Nachdem auch meine Kollegen wohlbehalten und sicher „im Tal“ wieder festen Boden unter den Füßen haben, buchen wir – voller Adrenalin und mit strahlenden Augen – ein weiteres Zipline-Abenteuer, die Jais Sky Tour. Dabei handelt es sich um ein knapp 90-minütiges Erlebnis, bei dem wir über sechs Ziplines kreuz und quer durch die Hajar-Bergkette fliegen, diesmal allerdings sitzend mit unmittelbarem Blick auf das Stahlseil und die Rolle, die mich letztendlich sicher über die Abgründe bringen. Auch wenn die Einzelabschnitte – bei einer von mir gemessenen Maximalgeschwindigkeit von 73 km/h – lediglich zwischen 300 Meter und etwas über einen Kilometer lang sind, empfinde ich diese Tour vor allem mental weitaus herausfordernder. Schließlich muss ich mich weitere sechsmal mit dem kurz vor dem Start aufkommenden aufregenden, wohligen und beklemmenden Gefühlen auseinandersetzen, bevor ich mich der Technik anvertraue.Jais Skytour

MUT IST DIE ANDERE SEITE DER ANGST

Bedenkenträger, die in ihrem Leben selten oder nie ein Risiko eingehen und jede Entscheidung mithilfe einer Gegenüberstellung von gewichteten Vor- und Nachteilen – inklusive möglicher Worst-Case-Szenarien – treffen, hätten spätestens beim Lesen und Unterschreiben der klein gedruckten Ausschlusserklärungen einen Rückzieher gemacht. Nein, sie hätten sicherlich bereits im Frühstückssaal nach einem kurzen Blick auf die Homepage des Anbieters „ohne mich“ gesagt und sich für das Kulturprogramm entschieden. Natürlich muss ein jeder für sich entscheiden, welche Risiken man eingeht, aber bekanntlich ist Mut auch die andere Seite der Angst. Bei mir war das Vertrauen in die Zipline-Technologie ausschlaggebend. Und ich habe es nicht bereut. Bis heute nicht. Im Gegenteil!

Kann ich beide Touren empfehlen? Uneingeschränkt! Es sind nicht nur zwei völlig unterschiedliche, unvergessliche, geile Erlebnisse, sie haben in mir auch etwas ausgelöst. Mir ist eindrucksvoll verdeutlicht geworden, dass das Gefühl der Freiheit ein eminent kostbares Gut ist! Und diese Leichtigkeit des Seins geht im Alltag durch Verpflichtungen, Verantwortung, Verträge, Kompromisse und und und – auch mit zunehmendem Alter – mehr und mehr verloren. Leider. Es liegt also an jedem einzelnen selbst, überfällige Entscheidungen zu treffen, ab und an über seinen Schatten zu springen, Ballast abzuwerfen und ausgetretene Pfade zu verlassen. Ich bin mir sicher, dies bringt lang verborgene Talente zum Vorschein, die es sich wieder oder neu zu entdecken lohnt. Ich freue mich darauf, und wie …

Apropos Kulturprogramm. Dazu hatte ich an einem anderen Tag noch genügend Zeit. Aber das ist eine andere Geschichte.

Klaus Arendt