Vor rund 55 Jahren vertrieben mein Bruder und ich uns einen trüben Sommernachmittag mit Räuber und Gendarm. Draußen regnete es Bindfäden, sodass wir Tatort und Fahndung ins Haus verlegen mussten. Entsprechend turbulent spielten sich auch die Szenen zwischen Einbruch und Festnahme ab. Wir balgten ohne Rücksicht auf Verluste, schließlich waren unsere Eltern nicht im Haus, dachte ich zumindest!
Nachdem ich die Runde des Polizisten sang- und klanglos verloren hatte, sahen meine Chancen, als Verbrecher davonzukommen auch nicht viel besser aus. Trotzdem wollte ich jede noch so kleine Möglichkeit nutzen, gegen meinen nicht nur älteren, sondern auch größeren und stärkeren Bruder zu bestehen. Zuhilfe kam mir dabei der neu angebrachte Duschvorhang an der Badewanne. Während der „Versteckzeit“ manipulierte ich die Aufhängung des Sicht- und Spritzschutzes dahingehend, dass der dünne Stoff nicht nur ohne Widerstand, sondern auch lautlos und ohne die ganze Aufhängung zu demolieren aus den Ösen rutschen konnte. Als mein Bruder das Badezimmer einer genauen Untersuchung unterzog und hinter dem halb zugezogenen Vorhang lugte, schnappte meine wohldurchdachte Falle auch schon zu, indem ich mich mit Schmackes durch den Vorhang auf ihn warf und mit lautem Gebrüll versuchte einzurollen. Sein überraschtes Gesicht sprach Bände, darauf war er nicht gefasst. Ich wähnte mich schon im Gefühl des sicheren Siegers, nahm allerdings aufgrund des ausgeschütteten Adrenalins das noch lautere Geschrei meines Bruders gar nicht wahr. Erst als mich eine starke Hand von hinten ans Schlafittchen packte und meinem Bruder dadurch – heulend – die Flucht ermöglichte, merkte ich, dass irgendetwas nicht so lief, wie ich es mir vorgestellt hatte. Während mein Bruder sich immer noch heulend in der Tür vor Schmerzen krümmte und mehrfach anmerkte, dass ich ihn absichtlich in den Unterleib geboxt hätte, war das Urteil meines Vaters – natürlich voreilig und ohne Anhörung des Beschuldigten – gefällt: ein Satz heißer Ohren. Als mich die Strafe rechts und links auf den Allerwertesten ereilte, traute ich meinen Augen nicht. Das heulende Gesicht meines Bruders verwandelte sich von einer Sekunde zur nächsten in ein schadenfrohes Grinsen, dabei signalisierte er mit den Fingern „seinen 2:0 Sieg“ und lief – die Arme in die Luft werfend – in unser gemeinsames Kinderzimmer. Als ich kurz darauf dort ebenfalls auftauchte, kostete er immer noch seinen eindeutig geschenkten und mit Lug und Trug errungenen Sieg aus. Mit einem schnippischen „das kriegst du wieder … irgendwann!“ ließ ich ihn alleine und trollte mich von dannen.
Süßsaure Rache
Knapp fünf Jahre später waren mein Bruder und ich auf unseren Klapp- und Jugendrädern unterwegs. Nachdem die Ereignisse in den Seitenstraßen des beschaulichen Nachbardorfes zu langweilig wurden und der Hunger uns nach Hause trieb, begann auf den Feld- und Waldwegen über Stock und Stein eine halsbrecherische Wettfahrt. Wir fuhren nebeneinander und keiner wollte dem anderen auch nur den Hauch einer Chance geben, zuerst das Gartentor zu erreichen. Als wir einen recht steilen Waldweg hinabdonnerten, bemerkte ich am Ende einer langgestreckten Rechtskurve meine Lieblingsfrucht: Brombeeren in Hülle und Fülle. Da uns beiden die Lungen brannten und die Beine schmerzten, jedoch niemand den Sieg dem anderen gönnte, schlug ich ein Unentschieden vor, das mit einer ausgiebigen Brombeerfutterei besiegelt werden sollte. Mein Bruder war einverstanden, gab aber trotzdem Gas, um sich als Erster die schönsten süßsauren Früchte einverleiben zu können. Am Ende der Abfahrt gewährte ich ihm auf den ersten Metern des jetzt halb so breiten Waldweges die Vorfahrt, nur um mich ganz uneigennützig links neben ihn zu drängeln. Während ihm schon das Wasser hörbar im Munde zusammenlief, verfolgte ich einen ganz anderen Plan, denn ich erinnerte mich ganz plötzlich an die für mich schmerzhaften Geschehnisse im Badezimmer. Während seine Augen nur auf die leckeren schwarzen Früchte ausgerichtet waren, versuchte ich das Tempo noch bis zur nächsten Linkskurve aufrecht zu halten, was mir auch gelang! Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass ich auf den Richtungswechsel vorbereitet war. Anstatt abzubremsen, legte ich kurz vor einer weiteren Kurve meine rechte Hand auf seinen Arm, nur um sicherzustellen, dass er geradeaus in die heiß geliebten Brombeerbüsche fahren musste. Als mein Bruder mein Vorhaben erkannte, war es auch schon zu spät. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände, denn er wusste, was auf ihn zukam. Mit einem freundlichen „schönen Gruß an deinen Unterleib“ verabschiedete ich mich von ihm und fuhr ganz entspannt weiter. Das hinter mir ertönende Geschrei war diesmal echt, so wie meins, als mein Allerwertester im Badezimmer vorzeitig Kirmes feiern durfte.
Zuhause angekommen erzählte ich meiner Mutter, dass ich das heutige Wettrennen klar für mich entscheiden konnte. Mein Bruder hingegen kam eine Viertelstunde später sichtlich zerknirscht und mit reichlich zerschrammten Armen und Beinen zur Haustür herein. Auf diesen Moment war ich sehr gespannt. Anstatt mich zu verpetzen, spielte er sein Missgeschick mit einer etwas zu schnell gefahrenen Kurve und der etwas härteren Landung in den Brombeeren herunter und signalisierte mir währenddessen ein heimliches 1:1. Großes Kino!
PS. Glücklicherweise erhielt ich von meinem Vater nur zweimal einen Satz heißer Ohren, einmal allerdings war es definitiv berechtigt. Aber das ist eine andere Geschichte.