Jeder von Euch kennt im Familien- und Freundeskreis sicherlich Personen, die grundsätzlich friedfertig, zuvorkommend, empathisch, verständnisvoll und hilfsbereit sind … es sei denn, sie haben Hunger, plötzlichen Hunger.
In diesem Fall verändern sich von einer Sekunde zur nächsten die eingangs beschriebenen Eigenschaften ins genaue Gegenteil, und zwar ohne Ankündigung. Ruhe vor dem Sturm, wie unmittelbar vor einem Gewitter? Fehlanzeige. Eine Übergangsphase mit der Möglichkeit des Wegrennens oder sich Hinwerfens gibt es nicht. Oder mit anderen Worten: die gesamte DNA-Struktur der betroffenen Person gerät völlig aus dem Ruder, weil mehrere Nukleotiden gleichzeitig ihre Kontrolle verlieren. Die sich unglücklicherweise in der Nähe befindlichen Mitmenschen müssen sich auf eine erdrutschartige Veränderung des Gemütszustandes der „hungernden Person“ einstellen.
So auch ich, im Sommerurlaub Anfang der Neunziger. Und zwar in Florida auf Sanibel Island, einer westlich von Ft. Myers vorgelagerten Insel im Golf von Mexico. Meine damalige Lebensgefährtin kannte ich zu diesem Zeitpunkt vier Jahre, und bis zu dem besagten Tag im Mai erlebte ich sie nie ausgehungert. Der Kühlschrank war meist gut gefüllt, in der Firma sorgte die Kantine für das leibliche Wohl und wenn wir Abends essen gehen wollten, hatten wir bei der Vielfalt der Restaurants die Qual der Wahl.
Auf unserer ersten gemeinsamen großen Urlaubsreise genossen wir einen wunderschönen Tag auf der für seine tollen Sandstrände und Muschelbänke bekannten Insel. Auf der kurzen Rückfahrt zum Hotel sahen wir einen „take away-Italiener“. Ohne auch nur ein einziges Wort zu wechseln, fuhr der Mietwagen wie von ganz alleine auf den Kundenparkplatz. Allein das Betreten des Restaurants war schon jeden Cent für die folgende Bestellung wert: Spaghetti mit Meeresfrüchte und ein großer Caesar Salad. Wenige Minuten später nahmen wir die frisch zubereiteten Nudeln in Empfang und stellten beide Tüten auf dem Rücksitz ab. Der sich binnen Sekunden ausbreitende Duft betörte nicht nur alle Sinne, sondern wurde mit jeder gefahrenen Meile auch immer gemeiner. Das Kopfkino auf das bevorstehende Festmahl mit den Gechmacksexplosionen im Gaumen konnte nicht besser sein. Es war angerichtet, Showdown im Hotelzimmer. Glücklicherweise hatten wir es nicht weit und wenige Minuten später parkten wir vor unserer Unterkunft.
Meine Lebensgefährtin konnte es kaum erwarten, sprang aus dem Auto, schnappte sich beide Tüten und rannte los. Ich kam kaum hinterher … um wenige Sekunden später diesen einen ohrenbetäubenden Schrei zu hören, den ich nie vergessen werde. Was auch immer dort passiert war, es war etwas Schreckliches oder Grauenvolles. Ich rannte um die Ecke und sah das Malheur … auf der Erde. Dort schlängelten sich unzählige kleine gelbstichige Schlangen durch eine von Meeresfrüchte und duftender Soße getränkte Sandpampe. Und direkt daneben kniete eine völlig aufgelöste, den Tränen nahe hungrige Frau mit diesem hilflosen Blick. Ich gebe zu, ein Bild für die Ewigkeit, das ich ebenfalls nie vergessen werde! (Handys gab es damals noch nicht und mein Fotoapparat befand sich im Rucksack.) Als ich sie in meine Arme schloss, konnte ich einfach nicht anders. Ich musste schallend lachen. Laut. Ihre Reaktion ließ keinen Spielraum für Alternativen: „Den Scheiß kannst Du jetzt alleine essen. Und komm gar nicht auf die Idee, neue Nudeln zu kaufen. Ich habe keinen Hunger mehr, mir ist der Appetit vergangen.“ Mein Hinweis auf den noch unbeschädigten Salat hörte sie nicht mehr. Sie hatte sich aus meinen Armen gewunden, auf dem Absatz kehrt gemacht, und war auf und davon. Nachdem ich die Essensreste entsorgt hatte, sah ich sie vom Balkon aus, fluchend wie ein Rohrspatz am Strand auf und ab durch den Sand stapfen.
Ende gut alles gut: nach einer gefühlten Ewigkeit führte der Hunger sie wieder ins Appartement und ihr Salat war binnen weniger Minuten weggeputzt, inklusive der in der Zwischenzeit von mir neu geholten Nudeln. Ich hatte nämlich Hunger, und zwar auf Spaghetti mit Meeresfrüchte. Und auf die wollte ich nicht verzichten. Diesmal achtete ich jedoch darauf, die Tüte beim Tragen am Boden festzuhalten – es handelte sich nämlich um Papiertüten, die beim ersten Mal durch Schwitzwasser aufgeweicht wurden und die eigentliche Ursache allen Übels war.