Es ist gar nicht so kalt

Es ist tatsächlich gar nicht so kaltEs ist tatsächlich gar nicht so kalt

Sonne satt, blauer Himmel, 30 Grad Celsius, mindestens, gekühlte Getränke, ein Sprung in den nahegelegenen See und laue Sommernächte en masse … der Sommer 2018 ist wirklich ohne Worte. Wer mochte da schon an Außentemperaturen um den Gefrierpunkt denken? Ich zum Beispiel, schließlich hatte ich eine Reise nach Spitzbergen gebucht. Geht’s noch, Herr Arendt? Es war also kein Wunder, dass mich meine Freunde mit einem verständnislosen Kopfschütteln und mit der Frage konfrontierten: Warum in aller Welt fliegst Du bei dem Wetter an den Polarkreis?

Aber der Reihe nach. Eine gute Freundin fragt mich im Dezember 2017, ob ich nicht Lust habe, mich einer Läufergruppe anzuschließen, um auf Spitzbergen einen Halbmarathon zu laufen. Da ich Sportveranstaltungen an exotischen Destinationen liebe und auch das übrige Programm für den Aufenthalt jenseits des Polarkreises sehr vielversprechend klingt, fällt mir die Entscheidung nicht sonderlich schwer. Mit jedem Tag, den die Reise näher rückt, steigt meine Freude auf das Land der Eisbären, Polarfüchse und Rentiere. Die bevorstehende Kälte blende ich – ein bekennendes Mitglied der Anti-Frostbeulen-Bewegung – einfach aus, schließlich ist auch auf Spitzbergen Sommer. Außerdem kann es gar nicht so eisig sein, wenn es – dem Mittsommer sei Dank – rund um die Uhr hell ist. Und bei Sonnenschein fühlen sich kalte Temperaturen doch auch gar nicht so frisch an. Oder etwa nicht?

Als ich morgens um 5 Uhr mit einer Daunenjacke unter dem Arm die S-Bahn am Frankfurter Flughafen verlasse, verfolgen mich bei bereits gefühlten 25 Grad Celsius zahlreiche neidende Blicke, weist mein Outfit doch eher auf kühlere Temperaturen hin. Die wenigen Stunden bis zur Ankunft auf Spitzbergen verfliegen im wahrsten Sinne des Wortes. Die wolkenfreie Sicht auf Norwegen und der Landeanflug über das schneebedeckte Svalbard auf die Inselhauptstadt Longyearbyen ist atemberaubend: Unberührte Gletscher und schneebedeckte Berge, wohin das Auge reicht. Der erste Eindruck ist vielversprechend, ebenso die Eiseskälte, die mich beim Verlassen des Flugzeuges begrüßt. Die Daunenjacke kann ich gar nicht so schnell anziehen, wie sich die Kälte in meinen Knochen festsetzt. Zum Glück habe ich den Ratschlag „denk daran Klausi, es ist kalt da oben, verdammt kalt“ ernst genommen und meinen kompletten Bestand an Windstoppern und wärmender Sportunterwäsche eingepackt, die mein Schrank hergab. Sogar Handschuhe und winterfeste Wanderschuhe kaufte ich mir extra für diese Polarerfahrung, denn kalte Füße und frierende Hände ziehen bei mir sämtliche Energiestecker. Zum Glück, denn bereits am Tag nach meiner Ankunft zeigt sich das Wetter von seiner wirklich ekligen und nasskalten Seite. Aber …. ich bin ganz ehrlich, ich empfinde es gar nicht so, im Gegenteil, da ich mich auf frostige Temperaturen eingestellt habe, ist es wärmer als erwartet. Das gefühlte Dutzend an Shirts, Pullis und Jacken, die ich in unterschiedlichen Stärken und Materialien übereinander anhabe, stören mich überhaupt nicht, sodass ich wie ein vermummtes Michelin-Männchen ich meine Entdeckungstour durch Longyearbyen beginne.

Ich gebe zu, das 2.000-Seelen-Örtchen bietet bei Weitem nicht so viele Highlights wie beispielsweise das schillernde Dubai. Aber in der Kirche einen Vorraum vorzufinden, der an eine Lounge erinnert und dort einen Kaffee angeboten zu bekommen, wer kann das schon von sich behaupten? Unter den wachsamen Augen eines ausgestopften Eisbären genieße ich diesen ebenso wie die Zimtschnecke in der übervollen Bäckerei des Einkaufszentrums. Okay, das klingt nach Shopping-Abenteuer, ist es aber nicht, denn wer braucht knapp 900 Kilometer vom Nordpol entfernt auch schon eine Mall. Und deshalb sind die Geschäfte – abgesehen von typischen Staubfängern, Tinnef und Nepomuk für die Tagestouristen der Kreuzfahrtschiffe – auch auf die wichtigsten Bedürfnisse der Besucher und Einwohner ausgerichtet: Warme Kleidung, Essen und Trinken. Ich muss auf nichts verzichten. Back to the roots.

Ebenso spielt es für mich keine Rolle, dass die Unterkunft sehr zweckmäßig eingerichtet ist: Bett, Waschbecken, Schrank, Schreibtisch und WLAN auf dem Zimmer, Bad und Toilette auf dem Flur, „Polarforscher“, was willst du mehr. All das vermittelt das Gefühl, Teil einer Expedition in eine andere Welt zu sein. Herrlich. Letzteres stelle ich immer dann fest, wenn ich am Ende eines langen Tages im Gemeinschaftsraum auf Reisende aus aller Herren Länder treffe. Bei heißem Kaffee oder kühlem Bier handeln die Geschichten von Abenteuern und Begegnungen mit Menschen und Tieren, nicht von Wertgegenständen, Labels und Reichtümern.

Ist die einbrechende Dunkelheit in unseren Breitengraden ein sicheres Zeichen, sich bald ins Bett zu verabschieden, kann man in Spitzbergen lange darauf warten und somit die Nächte durchreden, steht im Sommer die Sonne dort oben doch 24 Stunden am Firmament. Glücklicherweise kann ich – sofern ich müde bin – immer und überall schlafen, auch in einem mit einem einfachen Vorhang leicht verdunkeltem Zimmer.

Upps, jetzt habe ich noch keine einzige Zeile über meine Aktivitäten jenseits des Polarkreises geschrieben. Aber das sprengt den Rahmen meiner auf 5.555 Zeichen begrenzten Kurzgeschichten und wird Teil einer weiteren Erzählung. Soviel aber vorweg, der Aufenthalt auf Spitzbergen war eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Die Kälte schärft die Sinne und bringt klare Gedanken hervor, ziemlich deutliche sogar.